Wer soll das bezahlen?

Die Welt lebt auf Pump. Das war schon vor der Corona-Krise so. Der öffentliche Sektor hat seine Ausgaben nun weiter erhöht – in gigantischem Umfang. Niedrige Zinsen machen es möglich. Doch wie lange kann das gut gehen? Eine Analyse.

Von Bernhard Grünäugl (BayernInvest), Stefan Kipar und Jürgen Michels (BayernLB)

Der Corona-Schock und die folgende Politikreaktion haben die Schulden global in astronomische Höhen schießen lassen. Doch auch schon vor der Corona-Krise hat die Verschuldung weltweit immer neue Gipfel erreicht. Die Welt lebt auf Pump! Das gilt sowohl für die entwickelten Volkswirtschaften als auch für die Emerging Markets. Insbesondere in Letzteren stieg die Verschuldung in der letzten Dekade, ausgehend von einem geringen Niveau, deutlich an, aber auch in den Industrieländern war selbst vor dem Corona-Schock wenig von Konsolidierung zu erkennen. Gleichzeitig ist dies kein alleiniges Problem des öffentlichen Sektors, denn auch im privaten Sektor stieg die Verschuldung in den letzten Jahren konstant weiter.

Schuldentreiber Corona
Dennoch ist mit der Corona-Rezession eine neue Dynamik festzustellen. Aktuell übernimmt der öffentliche Sektor – Staat und Notenbank – Risiken, die sonst Unternehmen, Privathaushalte, Banken und Investoren übernehmen müssten. Fiskalisch werden Rettungsschirme gespannt und über Garantieprogramme Kreditrisiken (etwa über KfW Förderprogramme) abgesichert. Eine üblicherweise auf eine derartige Konjunkturkrise folgende deutliche Verschärfung von Kreditvergabestandards sowie der Finanzierungsbedingungen am Kapitalmarkt wurde durch diese staatlichen Garantien und regulatorischen Ausnahmetatbestände sowie das beherzte Eingreifen der Notenbanken weitestgehend vermieden.
Die direkt wirksamen Ausgabenprogramme der Staaten gehen dabei voll zulasten deutlich steigender Staatsschuldenquoten. Da letztlich aber wohl nicht alle ausgesprochenen Garantien in Anspruch genommen werden, dürften diese teilweise in den nächsten Jahren wieder aus der Schuldenstandsberechnung herausfallen, ohne das Defizit und damit die ausstehenden Schuldtitel des Staates stark belastet zu haben. Dies ist einer der Gründe, warum es im jetzigen Umfeld wichtiger ist, die Schuldentragfähigkeit der einzelnen Staaten im Blick zu haben als die reine Betrachtung des Schuldenstands.
Da die Notenbanken in der angespannten Situation besonderes Augenmerk auf den Erhalt günstiger Finanzierungskosten legen, ermöglichen sie damit, dass das Schuldenrad weiter gedreht wird und sich weitere Verbindlichkeiten aufbauen lassen. Neben der unmittelbaren Verbesserung der Kapitalmarktfinanzierung durch großvolumige Anleihekäufe sichert die Europäische Zentralbank (EZB) mithilfe des TLTRO-Programms die günstigen Refinanzierungskonditionen für Banken und setzt starke Anreize, die Kreditvergabe in der Krise aufrechtzuerhalten. Zwar sind dies alles Notfallmaßnahmen mit einem fixen Enddatum. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass die Notenbanken am Ende der Laufzeiten dieser Programme eine abrupte Liquiditätsverknappung zulassen werden.

Corona belastet Wirtschaft wohl auch strukturell
Klar ist, auch wenn die staatlichen Stützungsmaßnahmen bei den derzeit niedrigen Zinsen günstig zu finanzieren sind, wird der Haushaltsspielraum zukünftig eingeschränkt sein. Der Staat wird also selektiver vorgehen müssen. Auch Steuererhöhungen für Unternehmen und private Haushalte könnten in Zukunft auf der Agenda stehen, wie das beispielsweise zur Teilfinanzierung des EU-Wiederaufbaufonds vorgesehen ist. Hinzu kommt: Die aktuellen Stützungsmaßnahmen erhalten mutmaßlich viele Unternehmen, die es auch ohne Krise kaum zu einem zukunftsfähigen Geschäftsmodell gebracht hätten. Diese „Zombifizierung“ spricht für ein strukturell niedrigeres Wachstum nach der Krise.
Dennoch sind die Maßnahmen wohl nicht ausreichend, um alle Unternehmen am Leben zu erhalten. Mit Verzögerung wird es zu deutlich steigenden Unternehmensinsolvenzen und Kreditausfällen kommen. In diesem Umfeld wird es eine Verschärfung der Kreditvergabestandards geben, ein genereller Credit-Crunch dürfte aber durch die Liquiditätsflut der Geld und Fiskalpolitik verhindert werden.
Kurzfristig war es hilfreich, dass trotz einbrechender Unternehmensergebnisse die für Investoren und Ratingagenturen wichtigen Verschuldungskennziffern nicht so stark wie befürchtet angestiegen sind. Die Investitions- und Kostenzurückhaltung der Unternehmen hat sich hier ausgezahlt. Mittelfristig spricht allerdings auch dies dafür, dass die Wachstumsraten der Wirtschaft in Zukunft geringer als erhofft ausfallen werden.

Finanzierungsbedingungen bleiben günstig
Die Finanzierungsbedingungen insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen könnten sich künftig verschlechtern, wobei der Branchenzugehörigkeit besondere Bedeutung zukommen könnte. Wie die jetzigen Programme schon andeuten, dürfte dabei die Erfüllung der ohnehin immer wichtiger werdenden ESG-Kriterien eine größere Rolle spielen. Wenngleich bei großen Unternehmen, die sich direkt am Kapitalmarkt finanzieren, die gleiche Argumentation greift, dürften diese vergleichsweise weniger Probleme bekommen. Von kleineren Einzelfällen abgesehen, scheint die Schuldentragfähigkeit der Emittenten derzeit weder kapitalmarktseitig noch von den Ratingagenturen angezweifelt zu werden. Auch die Weichenstellung auf europäischer Ebene hin zu mehr Vergemeinschaftung hat sich hier als positiver Faktor erwiesen.
Das AAA-Rating der EU scheint vorerst nicht in Gefahr und auch das Rating italienischer Staatsanleihen profitiert explizit von den Unterstützungsmaßnahmen und der Solidarität der bonitätsstarken EU-Länder. Selbst im Bereich der Unternehmensanleihen halten sich die Ratingherabstufungen, gemessen an den wirtschaftlichen Verwerfungen der Corona-Rezession, noch in Grenzen. Die geplanten umfangreichen neuen Schulden können vorerst also gut an dem von den Zentralbanken mit Liquidität überfluteten Kapitalmarkt platziert werden, wenngleich in moderatem Ausmaß Konzessionen in Form moderater Zinsaufschläge notwendig werden könnten.

Die Jagd nach Rendite geht weiter
Während die Finanzierungsbedingungen für Staaten, Banken und Unternehmen im Großen und Ganzen günstig bleiben, werden sich Investoren auch weiterhin mit dem Niedrigzinsumfeld und tendenziell verschlechterten Bonitäten arrangieren müssen. Die zu erwartende schleppende Konjunkturerholung wird ein Überschießen der Inflation und damit eine erzwungenermaßen restriktivere Geldpolitik verhindern. Die Hoffnung der Anleger auf deutlich steigende Zinsen wird somit noch einige Zeit nicht erfüllt werden.
Gezwungenermaßen werden sich die Anleger, Sparer und Investoren auch in Zukunft auf die zunehmend schwierigere Suche nach Rendite begeben müssen. Um dem strukturellen Niedrigzinsumfeld akzeptable Renditen abzutrotzen, werden weiterhin die Flucht entlang der Liquiditäts- und Bontitätstufen bzw. entlang der Kapitalstruktur sowie entlang der Zinskurven und der Blick auf andere Währungsräume notwendig sein. Große, kapitalmarktorientierte Unternehmen, die in der Regel auch über mehrere Finanzierungskanäle verfügen, werden damit, bei vergleichbarer Bonität, wohl leichter Geldgeber finden als ihre kleineren, auf den Bankenkanal fokussierten Mitbewerber.
Da die Politik aufgrund der Größe und der damit zusammenhängenden Arbeitsplätze hier im Einzelfall auch eher zum Handeln neigen dürfte, heißt das aus Anlegersicht auch, dass große Unternehmen vermutlich niedrigere Ausfallwahrscheinlichkeiten aufweisen als kleine – kapitalmarktferne – Unternehmen.
Wie oben skizziert, dürfte die derzeitige Schutzschirmmentalität der Fiskalpolitik aber zunehmend zugunsten einer gestalterischen Rolle weichen. Für Unternehmen wie Investoren gilt es, gleichermaßen eine längerfristige und auf zukunftsfähige Branchen und Produkte ausgerichtete Strategie zu entwerfen. Dies gilt umso mehr, da selbst die Geldpolitik in Zukunft stärker differenzieren könnte. Nachhaltigkeitsaspekte und die Konformität mit den langfristigen Politikzielen werden hier entsprechend immer wichtiger.
In einer Welt niedrigerer Wachstumsraten und niedrigerer Ertragsaussichten ist es umso wichtiger, negative Entwicklungen zu vermeiden, da Verluste schwieriger wieder aufzuholen sind. Stranded Assets, also aufgrund regulatorischer oder wirtschaftsstruktureller Änderungen wertlos werdende Vermögensgegenstände, zu vermeiden und soziale sowie Governance-Aspekte in die Entscheidungen einzubeziehen, wird vor diesem Hintergrund immer wichtiger. Unternehmen, die hier gut aufgestellt sind, werden weiterhin auf günstigere Finanzierungsbedingungen hoffen dürfen.
Anleger, die ihre Portfolios frühzeitig entsprechend ausrichten, dürften von der Anpassung der Kapitalströme profitieren. Das Mantra, dass ESG-orientierte Anlagen in der Corona-Krise risikoadjustierte Mehrerträge für Investoren erzeugen konnten, dürfte in den nächsten Quartalen über diesen Kanal noch weiter untermauert werden.

Schulden bleiben, sind aber kein Show-Stopper
Schleppende Konjunktur, moderate Inflation und expansive Geld- und Fiskalpolitik zwingen Anleger auf der Suche nach Rendite und die europäische Politik dazu, sich weiterhin „durchzuwursteln“. Die gestiegenen Schuldenquoten werden dadurch aber nicht wieder abgebaut. Weder ist es wahrscheinlich, dass aus der Verschuldung „herausgewachsen“ werden kann, noch, dass „Weginflationieren“ einen realistischen Weg darstellen wird.
Dass in der nächsten Krise zum Mittel der Schuldenrestrukturierung gegriffen wird, ist aus heutiger Sicht ebenfalls unwahrscheinlich, insbesondere, da der Weg zu einer stärkeren Vergemeinschaftung öffentlicher Schulden erst begonnen hat und wohl tendenziell eher beschleunigt verfolgt werden dürfte. Die zunehmende Vergemeinschaftung in Europa wird vor allem im angelsächsischen Raum begrüßt. Dies könnte den für europäische Emittenten günstigen Nebeneffekt bringen, dass die Gläubigerbasis verbreitert werden kann. Als Allheilmittel im Umgang mit gestiegenen Schulden dürften die internationalen Kapitalströme aber wohl kaum helfen.
Die durch Corona dynamisch gestiegenen Schuldenquoten werden also auf lange Sicht erhalten bleiben. Politik und Investoren werden sich damit arrangieren müssen, aber vermutlich auch wie in den letzten Jahren damit arrangieren können. Solange die Geldpolitik bei niedrigen Inflationsraten expansiv ausgestaltet bleiben kann, wird die Schuldenthematik damit vorerst auch noch kein Problem darstellen und die Vermögenspreisinflation wohl weiter angefacht werden. Sollte die Geldpolitik jedoch gezwungen werden, die Zügel deutlich zu straffen, würde sich das Bild deutlich ändern.

Hier finden Sie die Ausgabe 03/20 des Magazins Mittelpunkt.