BayernInvest | Konjunktur & Märkte

19.07.2022

Viele Informationen, wenig Neuigkeiten zu erwarten

Im Vorfeld der anstehenden Eventrisiken bleibt unsere Empfehlung, (aktive) Risiken begrenzt zu halten. Die Abwärtsrisiken im Falle eines dauerhaften Gaslieferstopps oder enttäuschender Notenbank-Ankündigungen überwiegen im Vergleich zur andernfalls wohl einsetzenden Erholungsbewegung bei Aktien und Credits.

Ist der Sommer aus Putins Sicht wirklich der beste Zeitpunkt, um die Gaslieferungen einzustellen? Wohl eher nicht… aber wissen kann man es natürlich nicht. Die Portfolios werden situativ und taktisch angepasst werden müssen. Stagflations- und Notenbankrisiken bleiben zwar in jedem Fall weiter virulent. Die Risikoauslastung in den August hinein wird bei Aktien und Unternehmensanleihen (positiv) sowie Duration (negativ) in erster Linie den Gasfluss durch Nord Stream 1 spiegeln. Vermutlich wird es auf moderat höhere Aktienkurse, engere Risikoaufschläge und etwas steilere Zinsstrukturkurven bis zum Herbst hinauslaufen. Die aktuelle Situation ist aber auch einmal mehr ein Beleg dafür, dass Optionen und derivative Instrumente – dort, wo es grundsätzlich möglich ist – Teil des anwendbaren Instrumentenkastens einer Anlagestrategie sein sollten.

Von Bernhard Grünäugl,
Leiter Investment Strategy und ESG Research der BayernInvest



Gaslieferungen, Italien, EZB, Quartalsberichte

Bis Anfang August werden die Finanzmärkte viele neue Informationen zu verarbeiten haben. Mit der jüngsten italienischen Regierungskrise ist auch das Schicksal von Mario Draghi als italienischem Ministerpräsidenten verbunden. Zudem wird die EZB-Sitzung mit Spannung erwartet, da sie den ersten Zinsschritt seit 2011 um 25 Basispunkte und ein neues Anleihekaufprogramm (Transmission Protection Mechanism – kurz TPM) bereithält. Doch überlagert werden diese Themen und ihre kurzfristigen Auswirkungen auf den Kapitalmarkt von den News zu Wartungsarbeiten an Nord Stream 1, die bis Donnerstag avisiert sind.

Dass der italienische Wahlkampf begonnen hat und vorgezogene Neuwahlen durchaus wahrscheinlich sind, bringt die EZB bei ihrem auf Italien zugeschnittenem TPM dennoch in die Bredouille. EZB-Präsidentin Christine Lagarde wird zu dem ohne Not ins Leben gerufenen Programm, das eventuell auf politische Risikoprämien einwirken müsste, noch viele Fragen im Rahmen der Pressekonferenz zu beantworten haben. Vermutlich sind nur minimale Bedingungen an die Aktivierung des Programms geknüpft, um die mögliche Wirkung und Handlungsgeschwindigkeit hoch zu halten. Letztlich ist das TPM aber nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Konstruktionsfehler der Währungsunion einen Ausstieg aus den Niedrigzinsen für die EZB kaum möglich machen.

Neben italienischer Politik und EZB-Sitzung bestimmt die laufende Quartalsberichtssaison die Schlagzeilen. Die meisten Unternehmen dürften im zweiten Quartal noch ordentliche Ergebnisse eingefahren haben. Einen vor Zuversicht strotzenden Geschäftsausblick werden aber wohl die wenigsten Firmen wagen. Angesichts zweistelliger Gewinnsteigerungen, die die Aktienanalysten im Mittel für die kommenden zwölf Monate noch immer erwarten, dürften deutliche Abwärtsrevisionen der Prognosen in den nächsten Wochen anstehen. Am Markt dürfte das aber kaum jemanden überraschen. Eine Stagnation der Gewinne ist bereits eingepreist. Viele Informationen, aber kaum neue Erkenntnisse!

Einen echten Erkenntnisgewinn verspricht daher nur das scheinbar negativste Szenario: Dauerhaft ausbleibende Gaslieferungen! Nicht ein um wenige Tage über den 21. Juli hinaus verlängerter Wartungszeitraum, damit sollte gerechnet werden, sondern die Ankündigung, dass kein russisches Gas mehr durch die Ostsee nach Deutschland geschickt werden wird. In diesem Fall wäre klar, dass eine tiefe Rezession bevorsteht. 12 Prozent Wertschöpfungsverlust in Deutschland könnten drohen, wenn man einer kürzlich vorgelegten Studie von Prognos glauben mag. 6 Prozent in der Eurozone erscheinen damit ebenfalls realistisch.

Aktien und Unternehmensanleihen würden kurzfristig nochmals deutlich unter Druck kommen. Weitere 10 Prozent Kursrückgang bei europäischen Large Caps wären sicher möglich. Damit dürften diese dann aber wohl auch das lang erhoffte Signal zum Einstieg liefern – denn recht viel schlimmer kann es kaum noch kommen und die Notenbanken dürften eilig zur Unterstützung einer kollabierenden Wirtschaft eilen. Inflationsrisiken träten in den Hintergrund. Zweitrundeneffekte steigender Löhne wären bei drohender Insolvenzwelle und steigender Arbeitslosigkeit noch unwahrscheinlicher als dies derzeit bereits der Fall ist.

Ob es überhaupt dazu kommt, weiß außer dem russischen Präsidenten aber wohl aktuell niemand. Wenn man wüsste, was Wladimir Putin anstrebt, könnte man sich spieltheoretisch annähern: Ist es die Maximierung der Einnahmen aus dem Gasverkauf, die Maximierung des wirtschaftlichen Schadens in Westeuropa oder sind es völlig andere Motive wie z.B. das Schüren von Unsicherheit oder politischem Aktionismus? Vermutlich von allem etwas – was dann aber die Wiederaufnahme der Gaslieferungen (wenn auch gegebenenfalls verspätet) wahrscheinlich erscheinen lässt.

Denn die Gasspeicher in Deutschland und der EU wurden zuletzt bis auf knapp 65 Prozent gefüllt und auch in den letzten Tagen konnte der Füllstand trotz der Wartungsarbeiten relativ konstant gehalten werden. Dies liegt insbesondere neben etwas höheren Liefermengen aus Norwegen scheinbar eher an den günstigen Temperaturen. Diese haben den Gasverbrauch derzeit deutlich unter das Vorjahresniveau fallen lassen. Im Juni lag der deutsche Verbrauch an Erdgas etwa 27 Prozent unterhalb des Niveaus aus dem Juni 2021, im ersten Halbjahr wurden gut 15 Prozent Gas gegenüber 2021 eingespart.


Ist der Sommer wirklich der beste Zeitpunkt, um Gaslieferungen einzustellen?


Auch im Juli und August dürften die Gasspeicher relativ gut gefüllt bleiben, selbst wenn keine neuen Lieferungen durch Nord Stream 1 ankämen. Heißt im Umkehrschluss aber auch, warum sollte Putin bereits im Sommer den Gashahn zudrehen und damit Gewissheit schaffen und auf Einnahmen verzichten? Ab Oktober wird der Gasverbrauch wieder deutlich ansteigen. Selbst bei der bis November angepeilten Füllquote von 90 Prozent können auf Basis des Verbrauchs aus 2021 in Deutschland nur zwei Wintermonate vollständig ohne Gaslieferungen überbrückt werden. Die Trumpfkarte des Gaslieferstopps kann Putin also wohl auch noch später in 2022 ausspielen, falls er das möchte.

Unser Basisszenario ist damit, dass die Gaskrise in Deutschland vorerst ausbleibt. Wenn es dazu kommt, dass nach den Wartungsarbeiten wieder Gas nach Deutschland fließt, dürfte dies – trotz der womöglich nur aufgeschobenen Gasdrosselung – für moderat festere Aktienkurse und engere Credit-Spreads über den August und in den September hinein sorgen. Denn das Szenario einer tiefen Rezession würde ein Stück weit ausgepreist werden müssen. Vermutlich würden auch die kürzerfristigen Inflationserwartungen zusammen mit nachlassenden Gaspreisen und einem festeren Euro sinken und die Renditestrukturkurven vom langen Ende her steiler werden lassen. Die Renditen 10-jähriger Bunds gen 1,40 Prozent und um gut 5 Prozent höhere Aktienkurse scheinen realistische Größenordnungen.

Aber wäre dann wieder alles gut? Natürlich nicht. Eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen vertreibt längst nicht sämtliche Rezessions-, Inflations- und Notenbanksorgen und ist somit auch kein Szenario, in dem man strategisch die Risikoquoten voreilig stark anheben sollte.

Das grundsätzliche Bild einer sich abschwächenden Weltwirtschaft würde ebenso erhalten bleiben wie unsere bisherige Prognose einer (technischen) Rezession der Eurozone und der USA über die nächsten zwölf Monate.

Für eine nachhaltige Trendumkehr an den Kapitalmärkten müssen auch die (realisierten) Inflationsraten zu fallen beginnen und somit den Notenbanken ermöglichen, das Ende des Zinsanhebungszyklus zu signalisieren. Wir erwarten dies zwar weiterhin im späteren Jahresverlauf, bis dahin könnten die Kapitalmärkte verringerte Extremrisiken aber auch gleichsetzen mit einem Freifahrtschein für die Notenbanken, gegebenenfalls noch stärker an der Zinsschraube zu drehen.

Aus fundamentaler Sicht war jedoch bereits der Renditeanstieg der letzten Monate übertrieben hoch. Auf Basis unseres Regressionsmodells, das neben konjunkturellen Indikatoren und anderen Faktoren auch die Entwicklung der Kerninflationsrate einbezieht, müsste die Verzinsung 10-jähriger deutscher Staatsanleihen über die nächsten zwölf Monate wieder deutlich unter die 1-Prozentmarke fallen.


Renditeanstieg war zu schnell – mittelfristig tiefere Renditen zu erwarten


Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Weltkonjunktur auch ohne Gaslieferstopp – wie von uns unterstellt – weiter abschwächt. Denn die Verschärfung der Finanzierungskonditionen des ersten Halbjahres 2022 sowie die hohe Unsicherheit haben bereits Schaden angerichtet und werden sich zusammen mit der noch ausstehenden geldpolitischen Straffung der Notenbanken und dem Kaufkraftverlust der Konsumenten in den kommenden Monaten weiter negativ bemerkbar machen. In den USA zeigen sich am Arbeitsmarkt mittlerweile klare Bremsspuren und auch der Häusermarkt hat sich merklich abgekühlt.

In Europa ist die Kehrseite der warmen Temperaturen, dass Flusspegel extreme Niedrigstände erreichen und somit neben den Auswirkungen auf die Binnenschifffahrt und daraus resultierenden Problemen des Gütertransports auch die Stromerzeugung beeinträchtigt werden könnte.

Dies spricht dafür, dass sich der seit März zu beobachtende Trend fallender mittelfristiger Inflationserwartungen aufgrund zunehmender Rezessionssorgen weiter fortsetzt. Solange die Zentralbanken allerdings ihre Entscheidungen auf Basis der realisierten Inflation treffen und die mittelfristigen Aussichten in den Hintergrund stellen, dürften Aktien- und Staatsanleihemarkt weiter von hoher Schwankungsbreite geprägt sein und Zinsstrukturkurven flacher bzw. inverser werden.

Das Versäumnis, zu spät auf steigende Inflationsraten reagiert zu haben, lässt sich zentralbankseitig eben nicht dadurch heilen, dann umso stärker an der Zinsschraube zu drehen, wenn sich die mittelfristigen Aussichten bereits eintrüben.


Wirtschaftsabschwächung wird Inflationsaussichten weiter dämpfen


Etwas konstruktiver wird der Blick bei Unternehmensanleihen. Da der Credit-Markt zuletzt eher geneigt war, von einem Worst-Case-Szenario auszugehen, als dies im Aktienmarkt der Fall war – die Bewertungen im Euro-High-Yield-Markt sind weitgehend kompatibel mit einem Wirtschaftseinbruch von knapp sechs Prozent – erscheint hier die Überkompensation von Ausfall- und Downgraderisiken für den Fall einer milden Rezession bereits attraktiv. Unsere Empfehlung, Credit-Beta unterzugewichten, werden wir daher bald anpassen. Gegebenenfalls auch, bevor von Seiten der Notenbanken das „all-clear“-Signal gegeben wird.


Fazit

Aus Kapitalmarktsicht wäre das scheinbar schlechteste Szenario eines dauerhaften Gaslieferstopps mit kurzfristig nochmals erheblichen Rücksetzern bei Aktien (Größenordnung: 10 Prozent) und höhere Risikoaufschläge bei Unternehmensanleihen verbunden. Allerdings wäre es auch das Szenario, das am meisten Klarheit über den weiteren Verlauf der Wirtschaft und die Notenbankpolitik bringen würde – was nach den anfänglichen Rücksetzern an den Kapitalmärkten als Signal zum Einstieg gewertet werden würde.

Es ist aber gleichzeitig nicht das wahrscheinlichste Szenario. Vermutlich werden sich Aktien und Unternehmensanleihen in den kommenden Wochen positiv entwickeln können und die Renditen bonitätsstarker Staatsanleihen nach oben verschieben, wenn klar wird, dass Gaslieferungen nicht dauerhaft ausfallen (1,4 Prozent bei 10-jährigen Bund und +5 Prozent bei Aktien als Richtgrößen).

Allerdings bringt dieses Szenario mittelfristig keine massiven Veränderungen an unseren aktuell bestehenden Erwartungen mit sich – wir würden nach den anfänglichen Gewinnen mit weiterhin volatilen Aktienmärkten und im weiteren Jahresverlauf wieder rückläufigen Renditeniveaus bei Bunds und Treasuries rechnen. Dies gilt umso mehr, als dass nach der EZB-Zinserhöhung (und dem Ausblick auf einen weiteren 50 Basispunkte-Zinsschritt im September) und der Fed-Straffung kommende Woche (75 Basispunkte zu erwarten) Rezessionssorgen weiter erhalten bleiben. Politische Störfeuer wie derzeit aus Italien und geopolitische Risiken blieben ebenfalls dominierende Themen und würden den Ausblick weiterhin belasten.


BayernInvest Asset Allokation-Empfehlung


Ihr
Bernhard Grünäugl


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